Syrien im September 2025 – Ein Reisebericht
Zum ersten Mal seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 habe ich meine Geburtsstadt Aleppo und deren Umgebung wieder besucht, gespannt auf die neue Lebenssituation der Menschen, was sich alles geändert hat. Die Anreise war einfacher als vor drei Jahren. Mit meinem Bruder und meinem Cousin flog ich von München direkt nach Aleppo, unterbrochen nur durch einen Zwischenstopp in Istanbul. Obwohl außerhalb der Schulferien war unser Flieger voll mit Menschen,die wie mein Bruder seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten das erste Mal ihre Heimat wieder besuchten.
Sie alle hatten vorher große Angst, an der Grenze festgenommen zu werden, im Gefängnis zu landen oder gar für immer zu verschwinden. Das waren Syrer, die vor dem Krieg illegal aus dem Land flüchteten oder generell als politisch verdächtig galten, nicht nur Assad gegenüber kritisch Eingestellte, natürlich insbesondere auch Aktivisten, Kritik am Regime Übende. An einer Demonstration teilzunehmen, den Wehrdienst zu verweigern, ihn erst gar nicht anzutreten waren ausreichende Gründe für solche, berechtigte Ängste. Mein Bruder, in Deutschland geboren, jetzt 60 Jahre alt, hätte bei einer früheren Einreise den syrischen Wehrdienst für drei Jahre ausüben müssen. Aus Furcht an der Grenze festgenommen zu werden vermied er 46 Jahre lang, die Heimat unserer Eltern zu besuchen. Jetzt, endlich, konnte er ohne Furcht, mit „Salam aleikum“ (Friede sei mit Dir) ihn freundlich grüßenden Grenzbeamten syrischen Boden betreten. Aleppo, ja ganz Syrien ist in Aufbruchstimmung. Über fünfzig Jahre waren die Menschen von einer der gewalttätigsten Diktaturen unserer Zeit beherrscht und unterdrückt worden.
Übereinstimmend hörte ich von vielen:
Wir können endlich aufatmen, wir fürchten uns nicht mehr, wir hatten immer Angst, dass die Wände mit horchen, wir…
Sie sprechen jetzt offen an jedem Ort und zu jeder Zeit über all das, was ihnen auf der Zunge, auf ihrem Herzen liegt, was sie erlitten, erlebt und durchgemacht haben. Schreckliches, Unfassbares und unglaublich Menschenverachtendes habe ich gehört: grausamer Tod geliebter Menschen, Zerstörung von Wohnungen, Häusern und ganzen Stadtvierteln durch syrische und russische Raketen, knapp dem Tod entgangen zu sein, Fassbomben die willkürlich über sie abgeworfen wurden, vom Diebstahl ihrer Geschäfte, dem Raub des Inventars der Firma, von der Flucht von Angehörigen, Verschwinden von Bekannten und Verwandten, dem Verlust der Gemeinschaft und von oft vom Hunger leidenden Volk gegenüber dem Wohlstand und den Reichtürmern der Herrschenden.
Geschichten ohne Ende! Endlich können sie ausgesprochen werden, laut, deutlich und ohne Furcht. Endlich kann der Erschütterung, der Wut und der Trauer Ausdruck gegeben werden. Aufarbeitung geschieht und mir scheint, Heilung ist im Gange und es behauptet sich ein starker Überlebenswille. Fast hätte ich gesagt, eine explosionsartige Aufbruchstimmung liegt in der Luft. Die Lebensfreude kehrt zurück, diese habe ich schon immer an meinen Landsleuten geliebt und mich schon immer von ihr gerne anstecken lassen. Die Menschen – zumindest sehe ich das in Aleppo – möchten die verlorenen Jahre durch den Krieg, sogar die schon davor, in denen sie mehr gestorben sind als zu leben, nun nachholen wollen.
Menschen, die durch die Teilung Syriens voneinander getrennt waren, besuchen sich nun. Verwandte und Freunde aus dem Ausland kommen zurück. Die einen nur kurz zu Besuch, die anderen für immer. Sie treffen und besuchen sich zu jedem erdenklichen Anlass. Es wird sogar, so heißt es augenzwinkernd, mehr geheiratet als je zuvor. Vor der Hochzeit, auf der Hochzeit und selbstverständlich auch nach der Hochzeit und auch sonst, es gibt immer Anlässe sich zu besuchen, sich zu sehen und sich miteinander zu freuen. Aleppo erlebe ich als eine Stadt, die niemals schläft, Tag und Nacht in Bewegung. Wie ging es mir dabei? Während meiner ganzen Reise hatte es keinen einzigen Moment gegeben, der Anlass gewesen wäre, mich zu fürchten oder dass mir etwas Unangenehmes zustoßen könnte. Im Gegenteil, ich habe mich durchgehend sicher, wohl und weitgehend gut gelaunt gefühlt.
Das Geschäfts- und Handelsleben, so mein Eindruck, hat durch die Leute mit denen ich in Kontakt war im Vergleich zu meinem letztem Besuch vor drei Jahren, eine fast schwindeleregende Fahrt aufgenommen. Boden und Eigentum werden gekauft und verkauft, Häuser im kleinen und privaten Bereich werden – wenn auch mühsam – renoviert oder neu aufgebaut. Vom alten Regime beschlagnahmte Eigentümer sind in Bearbeitung und vor Aufklärung der Rechtsverhältnisse. Geschäfte im Inland und mit umliegenden Ländern werden getätigt, Kontakte werden im In-und Ausland wieder erneuert oder neu geknüpft. Vorher unter Strafe stehende Importtätigkeiten, wie Einfuhr von Medikamenten, Lebensmitteln, Maschinen/Werkzeuge, Autos etc., sind jetzt erlaubt und erfreuen sich eines regen Marktgeschehens. Wechselstuben mit Handeln internationaler Währungen schießen wie Pilze aus dem Boden. Unter dem Assad-Regime war allein der Besitz eines einzigen Dollarscheines schon unter Strafe gestellt und groß war die Angst, dadurch sein Eigentum zu verlieren. Jedoch leidet die syrische Währung, Lira, nach wie vor unter einem sehr schlechten Kurs. Vor dem Krieg kostete ein Euro 60 Syrische Lira, heute 13.000 Syrische Lira!
Lebensmittel gibt es genug, jeoch sind die hohen Lebensmittelpreise für die meisten Menschen weiterhin kaum zu bezahlen. Die allgemeinen Lebenshaltungskosten sind nach wie vor für viele viel zu hoch. Ein Großteil der Bevölkerung lebt immer noch unter der Armutsgrenze. Zwar wurden die Löhne der Angestellten beim Staat erhöht, jedoch reicht bei vielen nicht, mit nur einem Job über die Runden zu kommen. Eine Lehrerin verdient zwar statt 30 Euro heute 100 Euro im Monat. Sie muss aber statt an vier Tagen, nun sechs Tage arbeiten. Zudem hat sie, wie z.B. meine Cousine die auf dem Land Lehrerin ist, statt davor zwanzig teilweise nun bis zu hundert Schüler in einer Klasse. Eine Folge, weil viele geflüchtete Familien im Inland und aus dem Ausland zurückkehren und für die Kinder nicht automatisch mehr Lehrer/innen und Schulen zur Verfügung stehen. Die neue Regierung verlangt von ihren Angestellten einen zum Teil unbezahlten Einsatz und Beitrag zum Aufbau eines neuen Staates.
Besserverdiener sind in dieser Zeit dagegen Händler, Handwerker und Firmenbesitzer. Für sie ist der Moment gekommen gute, natürlich manchmal auch weniger gute Geschäfte machen zu können. Das Händlertum haben die Alepponeser im Blut und nicht umsonst war Aleppo vor dem Krieg die Wirtschaftsmetropole Syriens. Die Stadt ist meinem Eindruck nach gut dabei, es wieder werden zu wollen. Viele von den Menschen mit denen ich gesprochen habe, bekunden großes Vertrauen in die neue Regierung, insbesondere in den Präsidenten Ahmad al Scharaa. Sie sind stolz auf ihren Präsidenten, auch wenn bei einigen Ungeduld und Unsicherheit durchklingt. Im Wirtschafts-, Gesundheits- Energie- und Bildungssektor sind im allgemeinen – trotz meiner postiven Eindrücke zum Handel – noch keine wesentlichen Verbesserungen zu vermerken. Der Aufbau von zerstörten Dörfern und Stadtteilen geht nur langsam voran, zu viel liegt noch in Trümmern. Überall fehlt das Geld und die jetzige Regierung ist vor allem damit beschäftigt, sich neu zu organisieren.
Probleme mit Religionsangehörigen von Minderheiten haben die Menschen – soweit mir bekannt – in Aleppo nicht. Schon immer haben Angehörige verschiedenster Ethnien und Religionen, wie Kurden, Armenier und Christen friedlich nebeneinander und miteinander sowohl in Aleppo, als auch auch in ganz Syrien, gelebt und gearbeitet. Immer wieder hörte ich: „ Das Assad Regime wollte uns gegeneinander aufwiegeln, damit Hass und Gewalt entsteht. Aber das gibt es bei uns nicht.“ Hier möchte ich einfügen, meine Verwandten sind Sunniten und gehören damit der Mehrheit an. Allerdings wurde mir auch erzählt: „Ja es hat Racheakte gegeben nach dem Sturz des Regimes, von Leuten an Assad Anhänger ausgeübt, die Menschen aus ihrer Familie getötet haben“. Auch hörte ich: „Ein neuer Staat entsteht nicht von heute auf morgen, vor allem nicht nach 13 Jahren Krieg. Wir müssen Geduld und Vertrauen haben“. Und das haben die Menschen, insbesondere Vertrauen in Gott, in Allah. Sicherlich hat sie ihr tiefer und fester Glauben über die Kriegsjahre aufrecht erhalten und ich bin mir sicher, er wird sie auch über die schwere Übergangszeit tragen.
Beim Scheiben des Reiseberichtes erfahre ich gerade von meinem Onkel in Aleppo:
Es hat Übergriffe von Kurden auf einzelne Stadtviertel in Aleppo gegeben. Die Kurden hatten in ihrem Stadtteil Tunnel gegraben, um Regierungstruppen anzugreifen. Sie bestehen auf autonome Gebiete und eigene Rechte. Die neue Regierung ist schon allein deswegen gegen solche Forderungen nach einem eigenem „Staat“ der Kurden, um keinen Präzedenzfall für die andere, Drusen, Alawiten etc. zu schaffen, die dann ebenfalls auf eigenständig bestimmte Bereiche bestehen wollten.
Weiter meinte mein Onkel: „Die Mehrheit von 20 Millionen gegenüber 4 Millionen Menschen den Minderheiten angehörend in Syrien sind Sunniten. Die Sunniten wurden jahrzehntelang von einer Minderheit unterdrückend regiert, behandelt. „Es ist genug“, sagt mein Onkel, „sie müssen sich in den Staat einfügen, damit Syrien nicht zerfällt.“
- befreites Aleppo
- In der Altstadt. Osmanischer Hamam zerstört, li. zu sehen
- Zerstörtes und Leben zugleich
- Der Souk wird z.T. aufgebaut
- Zerstörter Souk 2021
- Männer feiern getrennt von den Frauen eine Hochzeit
Für zwei Tage war ich in Nord-West-Syrien (N-W-S), im ehemaligen Rebellengebiet und den vor der türkischen Grenze liegenden Binnenflüchtlingslagern. Dort habe ich einige der Wohnungen und Häuser, bei deren Instandsetzung und Wiederaufbau nach dem Erdbeben der Verein „Hilfe für Aleppo“ geholfen hat, aufgesucht. Vor dem Sturz des Regimes und der Teilung Syriens in ein Rebellen- und Regimegebiet war es mir nicht möglich gewesen, nach N-W-S einzureisen. Dies wäre nur über die Türkei möglich gewesen, welche die Einreise erlaubt, aber nicht die Ausreise. Es war allen Syrern, egal welchen Status, die Einreise aus Bedenken, dass sie in der Türkei bleiben könnten, verboten. Nach dem Umsturz hatte ich jetzt die Möglichkeit direkt vom Inland (Syrien) aus, das ehemalige Rebellengebiet, die Binnenflüchtlingsgebiete und weitere Projekte des Vereins „ Hilfe für Aleppo“ besuchen zu können. Von Aleppo bis zu den Binnenflüchtlingslagern brauchten wir mit dem Auto lediglich eine Stunde.
Gut die Hälfte der ca. drei Millionen Binnenflüchtlinge sind in ihre ehemaligen Städte, Dörfer und Häuser zurückgekehrt und haben nun die Möglichkeit, sich ein neues Leben aufzubauen. Der andere Teil, schätzungsweise über eine Million Menschen, lebt weiterhin in improvisierten Gebäuden und Unterkünften unter schwersten Lebensbedingungen. Ihre ehemaligen Dörfer, Häuser und Möglichkeiten Erwerbseinkommen zu erzielen, sind vernichtet und zerstört. Diese Menschen sind gezwungen in den Lagern zu bleiben, denn der neue Staat hat keine Mittel sie zu unterstützen . Internationale Hilfsorganisationen stellten ihre Hilfe ein, aber kleine Hilfsorganisationen, wie unser Verein „Hilfe für Aleppo“ und auch Privatpersonen helfen nach wie vor mit ihren Möglichkeiten, so beschränkt sie auch sein mögen. Positiv zu vermerken ist, dass sich wenigsten zum Teil die Arbeitsmöglichkeiten für die Männer der Familien verbessert haben, so dass sie mit Billigjobs das Notwendigste zum Leben erwirtschaften können. Manche Familienväter, auch Kinder, bauen z. B. verlassene Unterkünfte ab mit dem Ziel, Betonsteine, Türen, Fenster, Kabel etc., soweit sie nicht von den ehemaligen Inhabern selbst mitgenommen wurden, für – leider wenig Geld – zu verkaufen.
Hier sehen Sie über die unteren Links einige Fotos und ein Video aus den Binnenflüchtlingslagern:
- Binnenflüchtlinge in N-W-S
Video Binnenflüchtlinge sprechen
Abdel Fatah spricht im Video mit einer Frau und beruhigt sie, dass die Aufnahmen nur für den Verein sind: „Warum seid Ihr noch hier, warum seid Ihr nicht zurückgekehrt in Eure Dörfer?“ Die Frau spricht: „Wir haben kein Haus, auch hier ist das Leben schwer.“ A.F.: „Gibt es Hilfsorganisationen, die Euch helfen?“ Die Frau: “ Nein, es gibt keine Hilfe. Ja Wasser haben wir, aber sonst haben wir nichts.“
- Lebensmittelverteilung an die Binnenflüchtlinge
- Lebensmittelverteilung an Binnenflüchtlinge
Die Binnenflüchtlinge sind in großer Sorge und Not, dass sie nun ganz vergessen werden. Insbesondere fürchten sie den nahenden Winter, haben Angst, ihre Unterkünfte nicht beheizen zu können. Ich habe den Menschen versprochen, dass der Verein Hilfe für Aleppo sie durch diesen Bericht in Erinnerung bringen wird. Dass wir uns bemühen, für sie im Winter Heizkohle und Lebensmittel zu besorgen. Ebenso habe ich Menschen in Aleppo beruhigen können, dass der Verein sich weiterhin bemühen wird, die noch Hilfsbedürftigen und Notleidenden, insbesondere die Witwen mit ihren Kindern, über den Winter hinweg mit einem monatlichen Existenzbeitrag zu sichern.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen/Euch mit meinem Reisebericht einen kleinen Einblick in einen Ausschnitt des neuen Syrien und das Leben seiner Menschen dort geben. Und ich hoffe auch, dass die Hilfebedürftigen beim Übergang zu einem würdigen, sicheren und friedlichen Leben noch eine Weile die dringend notwendige Unterstützung erhalten.
Mit besten Grüßen,
festem Glauben und bleibender Zuversicht,
dass Veränderung zum Guten möglich ist
Sabbagh Mouna
Falls Sie mehr über Syrien erfahren möchten: Hier einen link eines „Spiegelinterviews“, über die am 05.10. stattgefundenen Parlamentswahlen und weiteren interessanten Informationen: SPIEGEL Shortcut zur syrischen Parlamentswahl