Nach vielen Jahren wieder in Syrien. Im April 2022

Zwölf Jahre sind seit meiner letzten Syrienreise vergangen. Jetzt war es endlich so weit, dass ich dieses mir so vertraute und gleichzeitig so geheimnisvolle Land wiedersehen konnte. Vertraut deshalb, weil ich bereits von klein auf mit meiner in Aleppo geborenen Mutter, meiner Schwester und unserer syrischen Oma, unsere Nene, etwa alle zwei Jahre unsere Verwandten in Aleppo besuchen durfte.

Schon von Anfang an, das heißt soweit ich mich an die ersten Aufenthalte erinnern kann, hat sich etwas in mir mit diesem Land Syrien und insbesondere der Stadt Aleppo innig verbunden gefühlt. Es fällt mir schwer, dies genauer zu erklären. Ich fühle eine Harmonie von Haut und Luft. Sie scheinen weniger voneinander getrennt, mehr miteinander verbunden als an anderen Orten. Das Gefühl einer erhöhten elektrischen Aufladung, wie ich es manchmal in Form von plötzlicher Gänsehaut erlebte. Oder einer ungewöhnlichen Stimmung wie sie sich mir angenehm und intensiv nach der Teilnahme an einem Freitagsgebet in der Moschee offenbarte. Ich möchte Syrien für mich als die ungelebte, mystische, unbekannte Essenz des Selbst beschreiben. Das „Schatten-Selbst“, welches irgendwo geschlummert hat und jetzt ganz langsam immer mehr zum Ausdruck kommt.

Der jetzige Syrien-Besuch war für mich eine sehr aufwühlende Konfrontation mit schmerzhaften, unangenehmen Anteilen, welche ich eigentlich lieber unter Verschluss gehalten hätte. Hier zeigte sie sich unübersehbar in allen Gesichtern. Zum Vorschein kamen tiefsitzende Traumata, Armut, Zerstörung, Verzweiflung über die eigene Machtlosigkeit. Wut über die Missstände und Benachteiligungen, wie etwa, dass bis auf ein paar „Außenseiter“, so gut wie niemand mehr Geschäfte mit Syrien macht. Bis hin zu Hoffnungslosigkeit, da in den letzten 11 Jahren die Lebensbedingungen Jahr für Jahr immer noch schwieriger wurden und der Rest der Welt wegzuschauen scheint.

Inmitten des Ganzen aber trotzdem und dennoch die Schönheit des Lebens: Spielende Kinder, neugierige Gesichter, in denen sich die Freude und Überraschung über unseren Besuch widerspiegelte. Sowie Offenheit und Raum für Berührung, wenn es beispielsweise darum ging, wie ich dem Islam gegenüberstehe und ob ich auch an den Einen Gott glauben würde. Allen Menschen dort gemeinsam ist jedoch, dass jede und jeder einzelne ums Überleben kämpft.

Die meisten kommen nicht drum herum in konstanter Anspannung und Sorge vor dem Morgen zu leben. Werden wir genug zu essen haben, werden unsere Kinder eine bessere Zukunft haben, wird das Geld reichen, um die nächste Stromrechnung zu bezahlen, woher nehmen wir die Mittel, um über den Monat zu kommen? Regelmäßig wurden wir angesprochen, ob wir denn nicht eine Kleinigkeit geben können, von Leuten, die zum Überleben Plastiktüten aus den Müllcontainern fischten, von Landwirten, die in die Stadt kamen, um das bisschen Gemüse zu verkaufen von den Feldern, die ihn noch blieben oder von Familien, wo das Geld trotz Anstellung als Lehrer/in nicht im Entferntesten reicht, um davon leben zu können.

Mit finanziellen Unterstützungen schenken wir ihnen einen kleinen Lichtblick. Und durch eine regelmäßige Gabe, wie etwa durch den Verein, besteht die Chance, dass das Lebensfeuer, dass in allen steckt, aber bei vielen nur noch Asche zu sein scheint, durch so eine Anteilnahme wieder zu glimmen beginnt. Ich bin davon überzeugt, dass wenn unser Bewusstsein über Leid und Ungerechtigkeit, insbesondere in Folge von Krieg oder Ausbeutung steigt, solche Bilder wie in Syrien nicht mehr zum Alltag gehören müssen.

Das Schlimmste für die Menschen wäre das Nicht-gesehen-werden und das Vergessen-werden. Durch das Schenken von aufrichtigem Mitgefühl und Nächstenliebe, in Form von Gebeten, Meditation sowie einer Geld Gabe können wir auch aus der Ferne ein bisschen helfen. Mögen alle Menschen und Lebewesen in Syrien Liebe, Glück und Frieden erfahren.

Josef Schaller